Teilprojekt A06 — Versicherheitlichung und Diskurse über Rechte
von Minderheiten und Mehrheiten in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert
1. Förderphase (2014-2017)
Bild: Buchcover, M. Bartha, V zemi Chazarů |
Das in der ersten Förderphase (2014-2017) bearbeitete Teilprojekt besteht aus zwei Teilvorhaben, die vergleichend jeweils einen Teil der Ostgebiete der Zweiten Republik Polen sowie die tschechoslowakische Karpatoukraine während der Zwischenkriegszeit in den Blick nehmen.Als mögliche Lösungsversuche dieser Problemlagen in potenziellen Konflikträumen traten neben die auf Kontrolle und Sicherung ausgerichteten polizeilich-militärischen Ansätze seit der Jahrhundertwende zunehmend auch Versuche einer Verrechtlichung von Konflikten und einer Aushandlung von Ausgleichen. Das Teilprojekt will offenlegen, wie solche Verrechtlichungsdiskurse von zentralstaatlicher Ebene aus mit bereits etablierten oder gewohnheitsrechtlich tradierten Verfahrensweisen und Praktiken des Interessenausgleichs auf lokaler Ebene zusammenwirkten, die auf Rechtsvorstellungen und Rechtswirklichkeiten gleichermaßen bezogen waren. Die Aushandlung, Generierung und rechtliche Umsetzung von Sicherheitsvorstellungen wird dabei als kommunikativer Gesamtprozess begriffen, der auf unterschiedlichen Ebenen abläuft (national, regional, lokal) und von spezifischen Akteursgruppen und -konstellationen getragen wird. Es stehen somit Perspektivverschränkungen zwischen Sicherheitsvorstellungen von staatlichen Institutionen, Mehrheiten- und MinderheitenvertreterInnen, Parteien, Medien, Expertengruppen sowie unterschiedlichen lokalen AkteurInnen im Fokus. Untersucht wird außerdem, unter welchen Bedingungen und in welcher Weise externe Rechtskonzepte (d.h. von gesamtstaatlichen Administrationen und Parteien, politischen und gesellschaftlichen Kräften in Nachbarstaaten oder auch durch internationale Gremien formulierte Lösungsansätze) rezipiert und in lokalen Kontexten verhandelt oder verworfen wurden.
Quelle: Masarykův ústav a Archiv AV ČR, Archiv ÚTGM,
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Teilvorhaben 1: Fremde Peripherie – Konfliktperipherie? Die Karpatoukraine und Ostpolen als Unsicherheitsregionen in Perspektive und Handlungsmustern zentralstaatlicher Akteure in Prag und Warschau in der Zwischenkriegszeit
Im ersten Projektvorhaben des Teilprojektes A06 „Versicherheitlichung und Diskurse über Rechte von Minderheiten und Mehrheiten in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert“ des SFB-TRR 138 „Dynamiken der Sicherheit“ soll untersucht werden, inwiefern sich staatliche sowie nicht-staatliche Akteure und Akteursgruppen in der Zweiten Polnischen Republik und der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit insbesondere auf gesamtstaatlicher Ebene diskursiv mit den jeweiligen östlichen Peripherien des Staates unter dem Aspekt von Sicherheitskonzepten auseinandersetzten haben und wie diese Diskurse miteinander verschränkt wurden. Bei den ausgewählten Gebieten handelt es sich um Territorien, die sich der polnische beziehungsweise tschechoslowakische Staat nach dem Ersten Weltkrieg im Zuge militärischer Auseinandersetzungen angeeignet hatte und deren innen- wie außenpolitische Situation teils wäre prekär eingeschätzt wurde. Diese aus dem Zentrum heraus als rückständig beschriebene Grenzgebiete wurden als potenziell konfliktreich wahrgenommen, in der mit einer in bedeutenden Teilen illoyalen Bevölkerung (bes. Ukrainer in Ostpolen und Ungarn in der Karpatoukraine) gerechnet wurde. Auch waren diese Landesteile Gegenstand irredentistischer und revisionistischer Strömungen, die ein existenzielles Sicherheitsproblem für den Gesamtstaat darstellten. Aus der Perspektive zentralstaatlicher Akteure und Akteursgruppen wurde dieser Problemstellung mit unterschiedlichen Handlungskonzepten begegnet, wobei die polnische Staatsmacht rigider vorging als die auf Ausgleich und Inklusion bemühte Prager Zentralregierung. Ziel dieses Teilvorhabens soll es sein, aufzuzeigen und zu analysieren, wie aus zentralstaatlicher Perspektive diese Sicherheitsproblematiken wahrgenommen, diskutiert und wie ihnen durch politisches Handeln begegnet wurde. Dabei wurde auf das Wissen von Sicherheitseliten zurückgegriffen (Historiker, Juristen, Ethnologen etc.), deren Rückwirkungen auf die Regierungspolitik in Prag und Warschau ebenso berücksichtigt werden sollen wie der Einfluss medialer Diskurse, wobei hier von einer Verschränkung von medialen und fachwissenschaftlichen Debatten und einer Überschneidung von Akteuren und Akteursgruppen ausgegangen wird. Diese Prozesse sollen unter dem Aspekt der Sicherheit als diskursiver und ergebnisoffener Gesamtprozess verstanden und anhand des im SFB „Dynamiken der Sicherheit“ verwendeten methodischen Zugangs der Versicherheitlichung analysiert werden.
Teilvorhaben 2: Versicherheitlichung und Diskurse über Rechte von Minderheiten und Mehrheiten: Stanisławów, Pińsk und Užhorod 1919-1938
Das Teilvorhaben untersucht Versicherheitlichungsdiskurse im Hinblick auf ihre praktische Umsetzung bzw. die Rückwirkungen vor Ort. Grundlage dieser Regionalstudie sind Mittelstädte in östlichen Grenzgebieten der Zweiten Polnischen Republik und der Karpatoukraine, die über ihre administrative Rolle (unterschiedliche) zentralörtliche Funktionen übernahmen und daher auch Orte von (sub)regionaler Rechtsprechung, Politikgestaltung bzw. Verwaltung waren. Diese Städte bildeten im Untersuchungszeitraum Teile der östlichen Peripherien Polens und der Tschechoslowakei.
Generell hat das Teilprojekt zum Ziel, die Verschränkung zwischen Diskursen über den Rechtsstatus von „Minderheiten“ sowie Praktiken der Versicherheitlichung und Entsicherheitlichung zu analysieren. Die rechtliche Umsetzung von Sicherheitsvorstellungen wird im Teilprojekt als kommunikativer Gesamtprozess begriffen, der auf den unterschiedlichen Ebenen (national, regional, lokal) auch spezifische Akteursgruppen umfasst. Vor diesem Hintergrund untersucht das Teilprojekt die mit lokalen Gruppenkonstellationen verbundenen Sicherheits- und Bedrohungsvorstellungen und die damit korrespondierenden Verrechtlichungsdiskurse und -praktiken. Analysiert wird außerdem, in welchen Konstellationen im lokalen Kontext tradierte Praktiken des Interessenausgleichs beibehalten wurden und unter welchen Bedingungen externe Rechtskonzepte in welcher Weise rezipiert wurden. Insofern interessiert sich das Projekt insbesondere für lokale Akteure sowie lokale RepräsentantInnen des Staates. Hier und nicht auf der „abstrakten“ zentralstaatlichen Ebene, so lautet die Arbeitshypothese, wurde über Erfolg und Misserfolg staatlicher Versicherheitlichungspraktiken und Zivilisierungsmissionen entschieden.
Speziell in Polen – und hier wiederum in Ostgalizien bzw. gegenüber Juden in den 1930er Jahren – trat der gesetzgebende Staat Minderheiten gegenüber mitunter auch repressiv auf, teils auch unter dem Einsatz von erheblicher Gewalt. Dieses Szenario, das man aus der bisherigen Forschungs- sowie Erinnerungsliteratur kennt, soll an Hand von buttom up-Prozessen überprüft und ggf. neu bewertet werden. Auf der lokalen Ebene jenseits der großen Konflikt- und Diskursarenen sind hier, so eine Arbeitshypothese, differenziertere Befunde sowie Aushandlungsgrammatiken zu erwarten.
Anhand der Fallstudien soll neben anderen Beispielen insbesondere der Lebensmittelmarkt als einen (physischen und diskursiven) Ort intensiver Interaktion und Kommunikation in den Blick genommen werden, um entsprechende Aushandlungen, Konflikte, Verrechtlichungs- und Versicherheitlichungsdiskurse und -praktiken zu fokussieren, wobei etwa Fragen von Steuereintreibung, Hygiene, konfessioneller und sonstiger Differenz (Sonntagsruhe, Regelungen für Juden, Schächten/Schlachten etc.) und Gewalt mitverhandelt werden sollen.